Traditionelle Chinesische Medizin Heilkunst aus Fernost
Nadja Katzenberger / Apotheken Umschau, 01.09.2009
Von der Volksheilkunde zur ernstzunehmenden Alternativmedizin: Die Entstehung der Traditionellen Chinesischen Medizin – kurz TCM –, des Konfuzianismus sowie des Yin und Yang
Alte Heilkunde – Akupunktur, Kräuterkunde, Tuina und Qigong entstanden lange vor Beginn unserer Zeitrechnung
Wenn es im Knie zwickt, hilft Akupunktur, Entspannung bringt ein Qigong-Kurs an der Volkshochschule, und von
innen reinigt ein Tee mit chinesischen Kräutern. Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) ist den Deutschen vertraut. Laut einer Erhebung der Berliner Charité nutzen mehr als 60 Prozent Akupunktur
oder andere TCM-Methoden. Nirgendwo in Europa steht die Heilkunde aus Ostasien so hoch im Kurs.
Wo die westliche Medizin trotz modernster Verfahren nicht alle Heilsversprechen halten kann, ist die TCM eine willkommene alternative Medizin. In China sind
die Fronten zwischen Naturheilkunde und Schulmedizin dagegen weniger klar: „Dort besteht die TCM gleichwertig neben der Schulmedizin und zählt zu den ganz normalen Heilmethoden“, sagt Professor
Carl-Hermann Hempen, Internist und TCM-Arzt aus München.
Die Ursprünge der chinesischen Medizin liegen weit in der Vergangenheit – etwa 3000 Jahre vor dem Beginn unserer Zeitrechnung. Das belegen
Akupunktur-Nadeln aus Bambus und Stein, die bei Ausgrabungen gefunden wurden. Die Übungen des Qigong existieren bereits seit mehr als 4000 Jahren.
Der Taoismus
Ähnlich wie in Europa entstand die Medizin in China zu einer Zeit, als Dämonen und Geister als die Verursacher von Krankheit und Schmerz galten. Eng verknüpft damit ist die Philosophie des Taoismus. Diese sehr naturverbundene Denkschule orientiert sich an Erfahrungen, Beobachtungen und Symbolik: Yin und Yang sowie die fünf Wandlungsphasen sind aus dem Taoismus hervorgegangen.
Das Wertepaar Yin und Yang, in dem gegensätzliche Pole – weiblich und männlich, Nacht und Tag, Schatten und Licht – gemeinsam eine Einheit bilden, ist
das Urprinzip des chinesischen Denkens und der TCM. Das bedeutet auch: Alles gehört zusammen und findet in einem Kreislauf statt.
Das ganzheitliche Wesen
Unter „Gesundheit“ versteht die chinesische Medizin die Harmonie zwischen den Gegensätzen Yin und Yang. Dieses Gleichgewicht versucht sie zu erhalten
oder wiederherzustellen. „Der Grundgedanke ist, dass der Mensch ein ganzheitliches Wesen ist, das man nicht nur symptomatisch betrachten darf“, erklärt Gerd Wiesemann, TCM-Therapeut am
Mercurius-Institut für chinesische Medizin in Köln/Bonn.
Körper und Seele gelten als Einheit und können nicht getrennt voneinander untersucht werden. Lebensumstände, familiäre Situation, Stimmungen – jede Einzelheit hat Einfluss auf die Diagnose des Arztes
und wird von ihm ausführlich erfragt.
TCM: Der Konfuzianismus
Die Grundgedanken des Konfuzianismus lassen sich auf die Medzin ebenso gut wie auf die Politik übertragen
Moxibustion: Auf Akupunktur-Punkten werden Kegel aus Beifuß abgebrannt, als Unterlage dienen Ingwer-Scheiben
Ein anderer philosophischer Pfeiler der TCM ist der Konfuzianismus – ursprünglich eine politische Theorie der Kriegs- und Staatsführung. Die Lehre ist
auch auf die Medizin übertragbar. Diese soll in erster Linie nicht Krankheiten heilen, sondern ihnen vorbeugen:
„Die Weisen behandeln nicht diejenigen, die bereits erkrankt sind, sondern diejenigen, die noch nicht erkrankt sind. Sie ordnen ihren Staat nicht erst während eines Aufruhrs, sondern bereits, bevor
er entstanden ist.“ So heißt es im „Inneren Klassiker des Gelben Kaisers“, einer der ältesten Schriften der chinesischen Medizin, die ungefähr 200 vor Christus erstellt wurde.
Für die Medizin bedeutet das: Symptome sollen so früh wie möglich erkannt werden – lange bevor der Patient sie als Beschwerden wahrnimmt
und lange bevor im schulmedizinischen Sinn eine Krankheit ausgebrochen ist. Die kleinste Veränderung, zum Beispiel der Gesichtsfarbe oder des Schweißgeruchs, kann auf ein kommendes Leiden
hinweisen.
Speicher und Paläste
Im Konfuzianimus wird der Körper gleichgesetzt mit einem Land, das vor Übergriffen geschützt werden muss. Das erklärt auch, warum so viele militärische Begriffe Eingang in die chinesische Medizin
gefunden haben und Krankheiten oft als „Angreifer“ oder „Feinde“ bezeichnet werden. Auch die Erfindung der Akupunktur, die Organe in „Speicher“ und „Paläste“ oder „Verwaltungseinheiten“
einzuteilen, geht auf den Konfuzianismus zurück. Ebenso die Idee von Leitbahnen, die – wie die Wasser- und Landstraßen im großen Reich der Mitte – den Körper durchziehen. Dort fließt das „Qi“(sprich:
Tschi) – nur unzureichend übersetzbar mit „Energie“ oder „Dampf“. Die Massage-Technik Tuina orientiert sich ebenfalls an diesen Linien.
Ist der Fluss des Qi gestört oder blockiert, verursacht das Beschwerden und Krankheiten. „Schmerzen sind nichts anderes als Stauungen oder eine Stagnation des Qi“, erläutert Carl-Hermann Hempen. „Mit
der Akupunktur kann man das sehr gut lösen und entspannen.“
Lange Zeit existierten Konfuzianismus und Taoismus nebeneinander und beeinflussten die Medizin gleichermaßen. Bedeutende Schriften entstanden, etwa der „Innere Klassiker des Gelben Kaisers“ (Huang
ti) oder der „Klassiker der schwierigen Fragen“ (Nan jing). Wichtiger jedoch als die Niederschrift war die mündliche Überlieferung. Heilkunde galt als geheimes Wissen, das nur ein großer Meister
einem gelehrigen Schüler verraten konnte. „Das Bild des Arztes in der chinesischen Gesellschaft ist viel mehr dem Boden verhaftet. Er wird nicht als Halbgott in Weiß überhöht wie im Westen, sondern
eher als Handwerker verstanden“, sagt Carl-Hermann Hempen.
Arzt ist Nachbar und Berater
Heute ist in China die Ausbildung für TCM-Ärzte an Universitäten und Kliniken einheitlich geregelt. Doch nicht nur auf dem Land ist der TCM-Arzt vielerorts noch der Nachbar und Berater, der seine Patienten lange und gut kennt. Sowohl Arzt als auch Patient stehen bei der Konsultation unter ständiger Beobachtung: „Man ist dort nicht mit dem Arzt allein, sondern es sitzen bis zu zehn andere Patienten dabei und hören zu. Sie wollen natürlich wissen: Wie behandelt er? Hat er damit Erfolg?“, erklärt Gerd Wiesemann, der neben seiner Tätigkeit in Deutschland an einer TCM-Universität in China studierte und dort auch seinen Doktor gemacht hat.
CM: Großes Interesse aus dem Westen
Mao Zedong ließ in den 1950er Jahren die TCM entwickeln. Sie ist eine an die Moderne Medizin angepasste Variante der alten Heilkunde
Kräutertherapie: Chinesische Apotheker mischen Rezepturen
Heute ist das Interesse europäischer Wissenschaftler an der chinesischen Medizin groß – vor 200 Jahren war es umgekehrt: Mit der Ankunft der westlichen Medizin in Asien drohten die traditionellen Heilmethoden vollständig aus dem Behandlungsrepertoire zu verschwinden. Nicht nur das: Die chinesische Medizin und ihr ganzes Gedankengebäude gerieten in die Kritik. Im Jahr 1929 sollte sie sogar verboten werden.
Auch Mao Zedong, seit 1949 Herrscher der neuen Volksrepublik China, lehnte die alte Heilkunde ab, zu eng war sie mit dem Feudalsystem der Vergangenheit verbunden. Zum Fortschrittsglauben des Kommunismus passte die westliche Medizin viel besser. Mit ihrer Hilfe sollte das riesige Land ein funktionierendes Gesundheitssystem bekommen. Das Vorhaben scheiterte: zum einen an der schieren Größe Chinas und seiner Bevölkerung. Zum anderen aus ideologischen Gründen – stand doch die westliche Medizin nicht nur für Fortschritt, sondern auch für Kapitalismus und entsprechendes Gedankengut.
Mao Zedong schwenkte um. Auf sein Bestreben entwickelten westlich geschulte Ärzte in den 50er-Jahren die „traditionelle chinesische Medizin“. Sie
enthielt zwar viele Bestandteile der alten Heilkunde, sollte aber angepasst sein an die Herausforderungen des 20. Jahrhunderts. Seitdem sind TCM und Schulmedizin in China gleichberechtigt. Ähnliches
hat auch Carl-Hermann Hempen beobachtet: „In den Kliniken dominiert die westliche Medizin, die ambulante Versorgung dagegen ist eher traditionell – das ist ausgeglichen.“
Ankunft im Westen
Kritiker sehen die TCM als Kunstprodukt, das mit der jahrtausendealten Heilkunde nichts gemeinsam hat. Verstärkt hat sich dieser künstliche Charakter auch auf dem Weg der TCM in den Westen – sie
wurde verändert, abgewandelt und angepasst.
Mit der behutsamen Öffnung Chinas in den 1970er- und 1980er-Jahren kam die TCM nach Europa. Es war nicht die erste Berührung des Westens mit asiatischen Heilmethoden. Schon vom 16. Jahrhundert an
berichteten Missionare, Handlungsreisende und Ärzte immer wieder von der Akupunktur – sie erschien den Europäern kurios und exotisch. Nachahmungen scheiterten anfangs, doch Mitte
des 20. Jahrhunderts etablierte sie sich im Westen.
Heute ist die Nadelbehandlung bei zahlreichen Ärzten ein fester Bestandteil ihres Therapie-Angebots. Für viele Menschen ist „traditionelle chinesische Medizin“ nichts anderes als ein Synonym für
Akupunktur. „Die chinesische Medizin beschränkt sich im Westen überwiegend auf die Akupunktur, ihre anderen Aspekte sind weitgehend unbekannt“, sagt Hempen. Wiesemann ergänzt: „In China ist die
Akupunktur ein Randbereich, ungefähr 90 Prozent der Beschwerden werden mit Kräutern behandelt.“
Umfangreiche Untersuchung
Die Experten kritisieren, dass nur selten eine korrekte chinesische Diagnose gestellt werde – ohne die aber ein TCM-Arzt kaum die richtige Therapie
festlegen könne. Die chinesische Diagnosefindung ist umfangreicher und aufwendiger als die schulmedizinische. Sie gliedert sich in vier Bereiche: Bei der Befragung will der Arzt alles über den
Patienten wissen. Von Essensgewohnheiten bis zum Schlafrhythmus kann alles von Belang sein, auch wenn es vordergründig nichts mit den Beschwerden zu tun
hat.
Wie viel der Therapeut bei der Betrachtung erfährt, hängt von seiner Erfahrung ab. Wie wirkt die Körperhaltung des Patienten? Wie ist die Haut beschaffen? Wichtigster
Bestandteil: die Zungendiagnose. Am Belag kann der Arzt etwa sehen, ob Müdigkeit und Schlafbedürfnis auf ein Magenproblem zurückzuführen sind oder ob irgendwo im Körper eine
Entzündung abläuft. Auch Klang und Geruch des Patienten geben Aufschluss über sein Befinden.
Letzter Punkt: die Betastung. Im Mittelpunkt steht die Pulsdiagnose. Je nach Geschwindigkeit und Kraft kennt die chinesische Medizin mehr als 30 verschiedene Pulsarten. „Außerdem werden andere
Bereiche des Körpers getastet, etwa bestimmte Akupunktur-Punkte, um zu erfahren, wo Schmerzen oder Verspannungen vorliegen“, erklärt Wiesemann. TCM-Ärzte beziehen aber auch schulmedizinisch gewonnene
Erkenntnisse wie Röntgenbilder oder Blutwerte ein.
Gleichgewicht wiederherstellen
In der TCM haben Krankheiten so verschiedene Ursachen wie „Leere“, „Hitze“ oder „Feuchtigkeit“. Das heißt, etwas ist im Übermaß vorhanden oder fehlt – das System ist aus dem Gleichgewicht geraten,
der Fluss des Qi gestört. Der TCM-Therapeut versucht, dieses Gleichgewicht wiederherzustellen.
Zu den Behandlungsmethoden gehören neben Kräutertherapie und Akupunktur auch Tuina-Massage, Qigong und Tai-Chi. Fachleute bemängeln, in Deutschland
werde zu häufig mit Akupunktur gearbeitet. Denn nicht bei allen Symptomen sind die Nadelstiche von Nutzen und stattdessen andere chinesische Methoden sinnvoller, zum Beispiel die Tuina-Massage oder
die Arzneimitteltherapie.
Dass Letztere in Europa immer noch ganz am Anfang steht, zeigt: Die Reise der TCM in den Westen ist noch lange nicht abgeschlossen – auch wenn Akupunktur und Qigong längst in Arztpraxen und
Volkshochschulen angekommen sind.
TCM: Das Prinzip von Yin und Yang
Dieses Zeichen können Sie auf alle gegensätzlichen Paare beziehen. Zum Beispiel Tag und Nacht
Quigongkugeln helfen eine innere Ruhe herzustellen
Ursprünglich bezeichneten Yin und Yang nicht mehr als „die beleuchtete“ (Yang) und „die unbeleuchtete Seite eines Hügels“ (Yin). Im Lauf der Zeit wurde dieses Paar zur Basis des chinesischen Denkens. Man geht davon aus, dass alles ein Gegenteil hat und zusammen mit diesem eine Einheit bildet. Alles kann mit Yin und Yang beschrieben werden – ob es sich um natürliche Phänomene wie Feuer oder Wasser handelt oder um Gefühle wie Wut oder Trauer.
Yin bezeichnet die Dinge, die man erklären, sehen oder messen kann – aber auch das Weibliche, die Ruhe oder den Schatten. Yang ist das Gegenteil: das Unergründliche, nicht Fassbare. Zudem steht es für die Eigenschaften „männlich“, „schöpferisch“ und „aktiv“. Unter Gesundheit versteht die TCM die Ausgewogenheit zwischen Yin und Yang. Diese Harmonie soll bei Störungen wiederhergestellt werden, zum Beispiel mit Heilkräutern oder Akupunktur.
TCM: Die fünf Wandlungsphasen
Hierbei handelt es sich um die Erweiterung des Systems Yin und Yang
Qigong: Die bewegte Meditation entspannt
Um Abläufe und Strukturen besser beschreiben zu können, wurde die Lehre von Yin und Yang erweitert. Es entstanden die „fünf Wandlungsphasen“. Dabei handelt es sich um „fünf Elemente“, denen Himmelsrichtungen zugeordnet sind: Holz (Osten), Feuer (Süden), Metall (Westen), Wasser (Norden) und Erde (Mitte).
So sollen zum Beispiel zeitliche Abläufe und Rhythmen, die einander ablösen und zusammen ein Ganzes bilden, dargestellt werden. Zu den einzelnen Elementen gehören auch Tugenden wie Güte (Holz) oder Emotionen wie Trauer (Metall).
Auch die Organe finden in den Wandlungsphasen ihre Entsprechungen, gleichzeitig sind sie in die Funktionsbereiche Yin oder Yang unterteilt. Zum Beispiel das Herz: Wandlungsphase „Feuer“, Funktionsbereich Yin, Himmelsrichtung Süden. Mithilfe dieses komplexen Systems ermittelt ein TCM-Arzt Krankheitsursachen und passende Therapien.